Neurochirurgie Karlsruhe
Neurochirurgie Karlsruhe

Multilokuläres Nervenengpaß-Syndrom ("Double-Crush-" oder "Multi-Entrapment-Syndrom")

Häufiger als angenommen treten bei Patienten symptomatische Nervenengpaßsyndrome an verschiedenen Stellen auf, sei es im Verlauf desselben Nerven ("Double-crush-Syndrom") oder voneinander unabhängig an verschiedenen Engpaßstellen mehrerer Nerven ("Multi-Entrapment-Syndrom").
Bereits der Bonner Internist Friedrich Schultze, der als Erstbeschreiber  des Karpaltunnelsydroms genannt wird, berichtete in seinem dargestellten Fall einer Frau darüber, daß diese über ein Einschlafen aller Finger berichtete, also waren auch die ulnar versorgten Finger bei dieser Patientin betroffen (Schultze 1893). 1973 stellten Upton und McComas die Hypothese auf, dass bei einem Kompressionssyndrom eines Nerven die Vulnerabilität gegenüber einer weiteren Kompression in den distal davon gelegenen Nervenabschnitten zunimmt (Ostermann 1888, Mumenthaler 2003).
Upton und McComas hatten die klinische Beobachtung gemacht, daß 70% der von Ihnen untersuchten Patienten entweder ein Karpaltunnelsyndrom oder eine N. ulnaris-Neuropathie aufwiesen, vergesellschaftet mit einer zervikothorakalen Wurzelläsion und nannten diese Beobachtung "double crush-Syndrome" (Upton & McComas 1973, zit. Mackinnon & Dellon 1988, S. 347, Mackinnon 1992, Lundborg 2004, S. 101). In jüngeren Untersuchungen (Pierre-Jerome und Bekkelund 2003, zit. Lundborg 2004, S. 101, 106) wurden mittels MRT die Querschnittsflächen der Neuroforamina C6 und 7 von Patienten mit KTS mit denen einer gesunden Kontrollgruppe verglichen. Sie fanden, daß zervikale Spondylosen und Bandscheibenvorfälle der Fächer HWK 5/6 und 6/7 häufiger bei Patienten mit KTS als in der gesunden Kontrollgruppe auftraten (Lundborg 2004, S. 106). 

Andere Autorengruppen kamen zu gleichen Ergebnisse Upton & McComas (Lundborg 2004, S. 101). Die Hypothese des "double-crush-Syndroms" wurde nur deswegen verworfen, weil sich in neurophysiologischen Studien keine Beweise für elektrophysiologische Auffälligkeiten fanden (Mumenthaler 2003, 77). Hierzu ist kritisch anzumerken, daß das Fehlen elektrophysiologischer Auffälligkeiten die Existenz von Mehrfachkompressionssyndromen keinesfalls ausschließt (s. Kapitel „Nervenkompressionen“).

Bei Handchirurgen und operativ tätigen Orthopäden ist das Phänomen bekannt, daß es Patienten gibt, die gleichzeitig ein- oder beidseitige multilokuläre Nervenengpässe aufweisen ("multi-entrapment-Syndrom"). Silver et al. berichteten darüber, daß sich bei mehr als einem Drittel von Patienten mit Karpaltunnelsyndrom sich sowohl sensible als motorische Defizite i.S. einer Ulnarisläsion elektrophysiologisch objektivieren ließen (Silver et al. 1985, zit. Lundborg 2004, S. 106) und bestätigten damit die Beobachtung von Schultze (Schultze 1893).

Die letzte umfassende Untersuchung von Willbourn und Gilliat, deren Ergebnisse dazu führten, daß die „Double Crush-Hypothese“ abgelehnt wurde, stammt aus dem Jahre 1997 (Willbourn & Gilliat 1997, zit. Mumenthaler 2003, Zitat 1540, S. 460), als systematische Untersuchungen mit der MRT sich gerade in den Anfängen befanden, zumal die Auflösung damals noch relativ gering war (Standard waren damals noch 0,5-1,0 Tesla-Geräte und die Spulentechnik war noch nicht so entwickelt wie heute). Neuere Untersuchungen hingegen bestätigen diese Koexistenz von peripheren Nervenkompressionsyndromen und zervikalen Radikulopathien (Pierre-Jerome & Bekkelund 2003, Galarza 2009).

Eigene Beobachtungen stützen die Existenz dieser Beobachtung : Ca. 50% aller Patienten, bei denen anteriore zervikale Fusionsoperationen durchgeführt wurde, oder bei denen dorsal nach der Frykholm-Technik Wurzeldekompressionen vorgenommen wurden, wurden in unterschiedlichen Zeiträumen (Wochen bis Jahre) vor oder nach der HWS-OP ebenfalls an peripheren Nervenkompressionen der Oberen Extremität operiert.

Die bereits von Massey (Massey et al. 1981, zit. Mackinnon 1988, 347) an 19 Patienten berichteten Beobachtungen, wonach diese Patienten gleichzeitig sowohl ein KTS als auch eine C6- oder C7-Radikulopathie  aufwiesen, können an Hand der eigenen HWS-OP-Serie an ca. 200 Patienten mit kurz- oder langstreckigen Dekompressionen bestätigt werden: C4-Radikulopathien waren oftmals mit einer erheblichen Druckschmerzhaftigkeit des N. suprascapularis an typischer Stelle (Incisura scapulae), Karpaltunnel- und Pronator teres- Syndrom mit einer C6-, Supinatorlogen-Syndrom oftmals mit einer C7-Radikulopathie, also Wurzelreizung oder -kompression vergesellschaftet, nicht hingegen perisulcale N. ulnaris-Kompressionen, welches oftmals, wie bereits Schultze 1893 berichtete, mit einem KTS bzw. einem Supinatorlogensyndrom zusammen auftritt. Die an Masseys Patientenkollektiv gemachten Beobachtungen wurden damals sogar elektrophysiologisch bestätigt. Massey et al. leiteten aus den gemachten Beobachtungen Folgendes als Theorie ab:

  • Eine erhöhte Empfindlichkeit der peripheren Nerven bei manchen Patienten auf Druck (dieses Phänomen ist als „prone-to-pressure-lesion“ bekannt).
  •  Eine proximale axonäre Läsion, die die distalen Nervenabschnitte verletzlicher auf Druck machen durch Störung des Nervenmetabolismus.
  • Proximale Unterbrechung der Lymph- oder venösen Drainage, die einen Nerv dann verletzlicher bzgl. Kompression macht.
  • Endoneurales Ödem eines Nerven in proximalen und/oder distalen Abschnitten, die einen Nerven und seine Hüllen verletzlicher gegenüber banalen   Traumen machen.
  • Bindegewebige Abnormalitäten (Massey et al. 1981, zit. Mackinnon 1988, 347-348)

Es erstaunt, daß sich dieses Zitat von Massey bei Mumenthaler et al. bei ansonsten umfassendem Literaturverzeichnis, nicht findet (Mumenthaler 2003), wohl aber bei Lundborg (Lundborg 2004, S. 111).

Generell ist aus oben Genanntem zu schließen, daß zumindest in der deutschsprachigen „Neurologie“ nur akzeptiert wird, was auch neurophysiologisch bestätigt werden kann. Das spricht für eine völlig fehlende kritische Distanz bzgl. der technischen Grenzen des elektrophysiologisch Bestimmbaren und sicher gegen die klinische Realität. Klinische Medizin ist und bleibt eine empirische Wissenschaft.

 

Neurochirurgie Karlsruhe   Mozartstraße 5, 76133 Karlsruhe   Fon: 0721 - 830 40 10   Impressum   Datenschutzerklärung
Diese Webseite verwendet Cookies, um die Bedienfreundlichkeit zu erhöhen. Weitere Informationen.